Martin Amanshauser

Vrijdagmarkt, Gotteslamm und Playmobil-Burg

Alle sprechen von Brüssel, Brügge oder Antwerpen, doch Gent ist Belgiens geheime Hauptstadt

Langsam verschwinden die Baugerüste. Gent ist jetzt neu!

Aus irgendeinem Grund beschloss die Stadtverwaltung vor einigen Jahren, es reicht jetzt. Die Innenstadt muss renoviert werden, und zwar womöglich alles gleichzeitig. Auf Holzpritschen klapperte man über die Schlammwüsten, links und rechts standen Baumaschinen. Inzwischen ist endlich ein Ende in Sicht. Gent erstrahlt in neuem Glanz – und die ostflämische Metropole kann endlich den Beweis erbringen, wieso sie, die ewig links liegen gelassene, besser, toller, originaler ist als Brüssel, Antwerpen und Brügge.

Zuerst: die Kunst. In Gent, in der Kirche des Heiligen Bavo, befindet sich einer der berühmtesten Altare der christlichen Geschichte, das „Lam Gods“ (Flämisch) oder Lamm Gottes. Kurioserweise gibt es die Weltsensation in zwei Ausführungen: rechts hinten in der Kirche die Kopie, links vorne das Original hinter Panzerglas und gegen eine Gebühr von vier Euro besichtigbar. Das Original trägt wegen diverser Restaurierungen und Neuübermalungen momentan vier Ohren. Jan van Eyck hat das Kunstwerk im Jahr 1432 geschaffen, unklar und viel debattiert ist, ob er es gemeinsam mit seinem Bruder Hubert oder doch alleine hergestellt hat. Es war unter Napoleon nach Frankreich, zur Zeit des Nationalsozialismus nach Deutschland geraubt worden, aber immer kam es zurück.

Agnostiker könnte die Botschaft des Flügelaltars nachdenklich machen: Sie verblüfft durch diesen fremdartigen Humor. Nicht Religionsführer Jesus Christus steht im Zentrum, auch kein Heiliger. Hier wird am Tag des Jüngsten Gerichts ein Lamm argebetet, ein Tier. Ein Lamm kann allerdings, egal wie raffieniert abgebildet, niemals intelligent dreinschauen. Und trotz aller biblischen Konnotationen, auch wenn das Blut des Lammes der Erlösung des Menschen dient, wäre die Vorstellung, ein anbetbares und angebetetes Lamm im Kirchenkontext derart naturalistisch abzubilden, im 21. Jahrhundert provokant bis undenkar. Van Eyck plus minus Bruder würde heute wohl zu jenen Künstlern zählen, die in Kirchen unerwünscht wären.

Auf den ersten Blick ist Gent so etwas wie Graz, eine hübsche Vierbuchstabenstadt der zweiten Liga, eine Studentenstadt mit einem netten Freitagsmarkt („Vrijdagmarkt“), und einem historischen Innenstadtkern. Dort steht in der größten Fußgängerzone des Landes einer der schönsten Belfried-Türme Flanderns. Im 14. Jahrhundert forderten die 60.000 Einwohner mit Vehemenz  Freiheiten und Privilegien für die Bürger, und der gotische Belfried ist dafür das Symbol. Zünfte, Gilden und Stadtverwaltungen ließen solche hochgeschossenen Gebäude ohne sakralen Hintergrund erbauen, um ihre Archive und die Verwaltung unterzubringen – mitten in der Stadt, Aug in Aug mit den Kirchen. In Gent entstand eine Dreieinigkeit, die „drie Torens van Gent“, alle auf einer Linie: die Kirche des Heiligen Bavo mit ihrem Lamm, die Nikolauskirche, und der Belfried aus dem 14. Jahrhundert als graue Eminenz, hoch wie kein anderer, mit einem Drachen auf der Spitze. Näherten sich Feinde, läutete die Rolandsglocke als Symbol bürgerlicher Macht.

Die Genter gelten neben ihrer historisch belegten Querköpfigkeit als locker und entspannt. Wo man heute in Antwerpen eine Debatte mit der lautesten Stimme für sich entscheiden kann, und in Brüssel keiner weiß, welche Sprache der andere gerade spricht, kennt der Genter den Grund für seine Streits und Zwistigkeiten. Grund für Auseinandersetzungen gäbe es in diesem Landstrich genug. Schaut man genauer hin, bleibt Belgien ein Rätsel. Koninkrijk België, Royaume de Belgique, keines oder beides von beiden? Kernland der Europäischen Union, mit einer multikulturellen Musterstadt, aber trotzdem – oder gerade deshalb? – tief gespalten und immer gut für Schlagzeilen der sezessionellen Art. Ob es diesen Staat nun gibt bzw. ihn überhaupt geben soll, hängt davon ab, wen man fragt. Weniger Gebildete stellen Belgien grundsätzlich in Frage, Gebildete werden auf die Gemeinsamkeiten verweisen. An Streitpunkten existieren eine Menge. In Gent wird man das Rätsel nicht lösen können. Die Einwohner sind auch in betrunkenem Zustand zu ruhig, zu gesittet, zu freundlich, um Flamen gegen Wallonen auszuspielen.

Eines steht jedoch fest: Seit die gesamte Bürgerschaft von Kaiser Karl V. im Jahr 1540 gezwungen wurde, bloßfüßig und mit einem Strang um den Hals vom Rathaus zum Prinzenhof zu ziehen, um sich zu unterwerfen, gilt der Strangträger oder „Stropke“ als Ehrenmann. Denn der Genter Bürgerschaft gelang es immer wieder, ihre Privilegien neu zu erkämpfen.

Außerhalb des Zentrums, am Ufer der Leie, befindet sich die andere Sehenswürdigkeit: Die Burg Gravensteen, 807 erstmals als solche überliefert, sieht exakt aus wie eine Playmobil-Burg aus Plastik. Nirgends in Gent ist das Mittelalter so deutlich sichtbar. Und im Mittelalter war Gent nach Paris die zweitgrößte Stadt Europas. Nur, dass Gravensteen, das schon in seinen Ansätzen einer syrischen Kreuzritterburg nachempfunden war, auf absurde Art noch mittelalterlicher aussieht als andere Burgen. Das liegt an der Weltausstellung, die 1913 hier stattfand. Die Architekten bauten die Burg ein dreiviertel Jahrtausend zurück, so perfekt sie konnten. Sie hatten freie Hand, denn zu jener Zeit war auch ein Abriss von Gravensteen zur Debatte gestanden – nachdem es als Gefängnis und später nur noch als Baumwollfabrik gedient hatte. In den Achtziger Jahren wurde das Ding noch einmal überrestauriert. Freilich darf eines der spekulativen Foltermuseen, wie sie Europa überziehen, nicht fehlen, hier immerhin mit einer Gerichtsaktensammlung.

Vom Mittelalter zur Gegenwart: Im Gegensatz zu den Konkurrenzstädten Antwerpen und Brügge gilt Gent, „Flanders` unsung city“ (Lonely Planet) als trendig. Es erblüht jährlich beim großen Festival „Gentse Feesten“ mit Konzerten, Straßentheater und mehreren Hunderttausend Besuchern. Ruhiger, aber ebenso wichtig ist das Internationale Filmfestival im Oktober. Wer es noch stiller haben will – ganz still wird es nie – begnügt sich mit dem Rest des Jahres. Bei einer Schifffahrt durch die Leiekanäle, unter dem wunderschönen Häuserreihen, oder einem Aperol vor dem Vleeshuis, dem Großen Fleischhaus, wo es ostflämische Spezialitäten wie Ganda-Schinken und Cuberdons gibt. In der alten Tierenteyn-Verlent Mosterdafabriek gegenüber wird der scharfe Genter Senf hergestellt, der wichtig ist, wenn man Käsewürfel serviert bekommt, gerne vor dem Abendessen oder anstelle des gleichen.

Ein Meilenstein ist das „Museum Dr. Guislain“ im früheren Hospital Guislain, benannt nach dem gleichnamigen Miterfinder der Psychiatrie. Als einer der ersten Ärzte hielt Guislain jede Art von „Verrücktheit“ für behandelbar. Das historische Foto, das für dieses Museum der Kuriositäten wirbt, zeigt einen Arzt, der über einen Trichter und einen Schlauch eine Flüssigkeit in die Nase des Patienten zwingt. Ein anderer Arzt hält dessen Kopf. Die Ausstellung zeigt die Behandlungsmethoden für Geisteskranke an der Grenze zwischen Alchimie und Wissenschaft – eine gruselige Vorstufe, die wohl nötig war, um zur modernen Psychiatrie zu gelangen.

Weitere Tollheiten? Gent ist eine Nachtstadt, hat laut Tourismuswerbung gar „3 Michelin-Sterne für seine gute Beleuchtung“ gewonnen. Wenn das nicht stimmt, ist es doch eine grandiose Idee. Die Pommes Frites sind zwar in Brügge erfunden worden, aber nur in Gent kriegt man sie mit „soverijsause mee mayonaise“, Fleischsauce, die aus Mayo und Bier gemacht wird. Bier ist überhaupt eine große Sache, die Lokale machen Werbung mit „100 Sorten“, mit „500 Sorten“ – oder waren es irgendwo 2.000? – sie halten sich jedenfalls die Auswahl an Gerstensaft zugute. Tex Rubinowitz hat in seinem Buch „Der Bremsenflüsterer“ treffend auf die außergewöhnlichsten belgischen Sorten hingewiesen, unter anderem auf den „Plötzlichen Himbeertod“ (in der gleichnamigen Reisegeschichte) und andere „absurd aromatisierte Spielzeugbiere“, die man auf Barhockern mit Rücken- und Armlehnen genießt.

All diese kuriosen Biere haben ihren Weg auch nach Patershol gefunden, dem ältesten Viertel der Stadt auf knapp 5 Hektar, einst gräfliches Miltärgebiet, heute autofrei und saniert. Die Arbeiterhäuschen, die einst der Unterschicht, den Studenten und Bordellbetreibern Platz gaben, erzielen heute Höchstpreise. Hier sind die Straßen noch mit Kopfstein gepflastert, Steine, die entsetzlicherweise als „Kinderkopkes“ bezeichnet werden. Der Straßenverlauf ist mittelalterlich, die beste Gastronomie hat sich auf diesem kleinen Gebiet angesiedelt, aber auch das Designer-Bed&Breakfast von Anina Karina, die sich darauf spezialisierte, Wohnlösungen auf engstem Raum zu finden: Knappe 25 Quadratmeter, inklusive Küche und Bad, können hier von Kleinfamilien bewohnt werden. Das einzige reguläre Hotel im Bezirk ist jedoch das Harmony, gleich an der malerischen Gracht Kraanlei, ein Familienhotel, von dessen oberen Stockwerken aus man nicht nur das Wasser, sondern auch die „drie Torens“, die drei Türme sieht. Vor dem Harmony stehen noch ein paar Gerüste, aber wenn Sie kommen, wird Gent unter Umständen fertigsaniert sein.

Informationen & Broschüren:

www.flandern.at , Tel: (01) 5960660

Unterkunft:

Bed & Breakfast Studio INs INN der Anina Karina, Corduwaniersstraat 11, insinn@telenet.be.

Hotel Harmony, www.hotel-harmony.be, Kraanlei 37, Gent.

Restaurants und Cafés:

Het waterhuis aan de Bierkant, Groentenmarkt 9, 9000 Gent, www.waterhuisaandebierkant.be

Het Groot Vleeshuis, Großes Fleischhaus, Groentenmarkt 7, Di-So 10-18, www.grootvleeshuis.be

Het oeverloze eiland, Oudburg 39, www.hetoeverlozeeiland.be

Julie´s house, Konditorei, Kraanlei 13, www.julieshouse.be

Bier, Süßigkeiten, Senf:

Bieren en jenevers, Beer and Ginhouse, Bier-Souvenirs, Kraanlei 27, 9000 Gent, www.beerandginhouse.be

Tierenteyn-Verlent Mosterdafabriek, Senffarbrik, Groentenmarkt 3, www.tierenteyn-verlent.be

Bakkerij Himschoot, Bäckerei, Groentenmarkt 1

Olleke Bolleke, Bonbonladen, Groot Kanon 9.

Chocolatier L. van Hoorebeke, handmade chocolates, pralines artisanales, Schokoladeshop, S.-Baafsplein.

Das Viertel Patershol, www.patershol.be